Mittelalterliches Hauptwerk aus Kleve im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum zu sehen

Im Herbst und Winter 2025/2026 reist ein Hauptwerk aus der mittelalterlichen Sammlung des Museum Kurhaus Kleve nach Aachen, um von 29. November 2025 bis 16. März 2026 in der von Kurator Michael Rief großartig konzipierten Ausstellung „Praymobil – Mittelalterliche Kunst in Bewegung“ im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen gezeigt zu werden: der „Himmelfahrtschristus“ von Meister Arnt von Kalkar und Zwolle (1476). 

Die Ausstellung ist weltweit die erste Schau, die sich der Wirksamkeit von mittelalterlichen Skulpturen in Gestalt von bewegten und „selbst-agierenden“ Figuren widmet. Als „bewegend, als wenn es lebete“ werden in einer mittelalterlichen Quelle jene Bildwerke bezeichnet, die im kirchlichen Brauchtum, der Liturgie und in der Frömmigkeitspraxis die Illusion vermittelten, sie seien lebendig. Es handelt sich um meist aus Holz, mitunter aber auch aus Ton oder Metallen gefertigte Skulpturen, die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit zur Veranschaulichung und Verlebendigung vornehmlich des Christuslebens und der Passionsgeschichte als Protagonisten geistlicher Spiele zum Einsatz kamen. Sie sollten für das „re-enactment“ jenseits der kirchlichen Zeremonien und während der Liturgiefeier den Eindruck erwecken, als würden sie selbst agieren. 

In der kunsthistorischen Literatur hat sich hierfür seit den späten 1980er Jahren der Begriff des „handelnden Bildwerks“ eingebürgert, der jedoch zu Missverständnissen führen kann, da die Bildwerke ja selbst nicht handeln, sondern bewegt werden. Hierzu zählen nackte und anzukleidende Christkinder sowie Christkindwiegen bzw. -bettchen, die beinahe lebensgroßen, auf fahrbare Gestelle montierten Palmesel mit reitender Christusfigur, die am Palmsonntag in einer großen Prozession durch das Kirchenviertel gezogen wurden; Kruzifixe mit schwenkbaren Armen, mit denen Kreuzabnahme, Beweinung und Grablegung unter Beteiligung von menschlichen Akteuren nachgestellt werden konnten, ferner Grablieger (Leichnam Christi) und Figuren des Himmelfahrtschristus, die am Tag von „Christi Himmelfahrt“ in das „Heiliggeistloch“ im Kirchgewölbe gezogen wurden.

Zu den bewegten Bildwerken gehören auch, wie bislang noch wenig bekannt, Marienfiguren wie die Maria gravida (Maria in der Hoffnung), der man das Christkind aus dem Bauch herausnehmen konnte; Madonnen, denen das Kind abnehmbar aufgesteckt war; Gottesmutterdarstellung­en, die selbst oder deren Christuskinder einen drehbaren Kopf besaßen; Marienfiguren mit fließenden Tränen; Maria als Schmerzensmutter mit dem zur Beweinung oder Grablegung abnehmbaren Leichnam Christi. 

Auch Skulpturen, mit denen mehrere biblische Ereignisse veranschaulicht werden konnten, sind Gegenstand der Ausstellung: Christusbilder, die im Kontext der Passionsgeschichte sowohl in der Ecce homo-Szene, als auch als Schmerzensmann und Grablegungschristus fungieren konnte; sowie Christkinder, die an Marien aufgesteckt wurden und auf Kissen während Prozessionen an Mariä Lichtmess bzw. zur Aufstellung auf dem Altar Verwendung fanden. 

Es ist ein spannender und der Allgemeinheit nicht bekannter Aspekt, dass doch so viele Skulpturen in Liturgie und Frömmigkeitspraxis des Spätmittelalters wirklich gebraucht und bewegt und ihnen somit Lebendigkeit verliehen wurden. In der Regel verbindet man mit Skulpturen dieser Zeit eher statische Objekte. 

Im Gegensatz zu diesen bewegten Bildwerken lassen sich auch selbst-agierende Skulpturen nachweisen. Dies betrifft sowohl den Bereich der Automaten, als auch in der Malerei und Graphik auftretende Bildwerke, die entsprechend verschiedener Legenden selbsttätig handeln. Dies gilt etwa für die HI. Katharina von Siena, die von einem geschnitzten Holzkruzifix Stigmata empfing, die HI. Hedwig, die von einem Kruzifix gesegnet wurde, oder den HI. Bernhard, der aus der Brust einer Madonnenskulptur einen Milchstrahl erhielt. Auch dieser Aspekt der eigenmächtig handelnden Skulpturen wird in der Ausstellung vorgestellt. 

Darüber hinaus geht es um das „missbrauchte“ Kunstwerk: Die Ausstellung thematisiert auch die Entlarvung von weinenden, blutenden und sprechenden Bildwerken als Betrug, die aus religiösen, vor allem aber auch aus handfesten Gewinnstreben die Vorstellung von Wundern fingierten. Diese an Reliquienschwindel angelehnten und erstaunlich weit verbreiteten Praktiken hatten einen wesentlichen Anteil an der zum Teil besonders vehementen Ablehnung bewegten Bilder in der Reformation. Dabei kam es auch im Protestantismus zu vereinzelter Um- und Neunutzung bewegter Bilder, was in der Ausstellung gleichfalls nicht verschwiegen werden soll. 

Die Ausstellung widmet sich Beispielen mittelalterlicher Kunst, die im Gegensatz zur kostbaren Schatzkunst von Stiftskirchen und Bischofssitzen vor allem durch breite Bevölkerungsschichten der damaligen Zeit bewundert und verehrt wurden. Der Fokus des Interesses gilt den Schnittstellen zwischen Kunstgeschichte, Frömmigkeitspraxis und volkstümlichem Brauchtum, deren Nachwirkungen nicht nur im Rheinland bis in den heutigen Tag spürbar sind. Aus diesem Grunde thematisiert die Ausstellung abschließend das Fortleben jener in der mittelalterlichen Glaubenspraxis wurzelnden Traditionen während des Barocks und bis in die Gegenwart. Erwähnt werden soll, dass die Figuren einerseits mit Gesang, Sprechsequenzen und Musik für das theatralische und dramatische Spiel unter Volksbeteiligung genutzt wurden, eine sicherlich laute und lebhafte Angelegenheit, aber auch für die kontemplative Versenkung (z.B. der Grablieger im Heiliggrab, Christuskinder) nach dem re-enactment. 

Einen direkten und augenfälligen Bezug zum Ausstellungsthema findet sich in einem in Aachen noch lebendigen Brauch, der das Faszinosum der gegenständlichen Skulpturen­gattung deutlich macht: Während des dreitägigen Roskirmes-Festes „Streuengelche van de Rues“ im Bereich der Roskapelle wurde und wird eine reich gekleidete Skulptur, die sogenannte „Streuengelche-Puppe“ auf Seilen, die hoch zwischen zwei Häusern quer über die Rosstraße gespannt sind, hin- und hergezogen. Durch die Rüttelbewegungen selbst bzw. durch eine Kippvorrichtung vermag die Figur Süßigkeiten („Kamelle“) in die Menge fallen zu lassen. Auch die seit 1521 von der Aachener Bevölkerung für Umzüge eingesetzte überlebensgroße bewegliche Puppe Karls des Großen (seit dem 19. Jahrhundert verschollen) gehört in einen vergleichbaren Kontext. 

Ausgehend von einigen Stücken aus eigenem Bestand und ausgewählten Leihgaben aus europäischen Sammlungen soll die Schau die damalige Mediennutzung, die Verbindung zwischen geistlichem Spiel und Theaterpraxis innerhalb und außerhalb der Liturgie herausarbeiten. Funktionszusammenhänge, die bei der Erforschung von Kunstwerken oftmals ausgeblendet und sogar in der musealen Präsentation getilgt wurden (Räder von Palmeselchristus-Figuren entfernt, Gelenke der beweglichen Gliedmaße überkittet und retuschiert usw.), stehen im Vordergrund. Erst neuerdings werden Fragen nach der Funktion von Objekten in den Blickpunkt gerückt, während jahrzehntelang nur Stilfragen diskutiert wurden. 

Die Ausstellung integriert darüber hinaus bewusst und zielgerichtet zeitgenössische Kunstwerke, die aufgrund ähnlicher Ästhetik, performativer Qualitäten sowie verwandter Themen, die Aktualität der Thematik unterstreichen und die den Objekten zugrundeliegenden allgemeinen menschlichen Bedürfnisse und Interessen in den Vordergrund stellen. Hier denken wir unter anderem an Werke von Berlinde de Bruyckere, lsa Genzken, Hans op de Beek, oder Andre Guerif. Die Integration zeitgenössischer künstlerischer Positionen in die Ausstellung kann wesentlich dazu beitragen, den Besucher*innen inhaltliche und emotionale Zugänge zu der Ausstellungsthematik zu ermöglichen, die bei einer ausschließlich historischen Kontextualisierung nur eingeschränkt wirksam werden. 

Die Ausstellung zeigt ca. 70 bis 80 Objekte aus deutschen und europäischen Museen, kirchlichen und privaten Sammlungen vornehmlich aus einem Zeitraum von etwa 1300 bis 1550. Es handelt sich meist um bis zu lebensgroße Skulpturen aus Holz, um Kleinfiguren auch aus Ton und Silber, sowie Gemälde und Druckgraphiken. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit ca. 15 Essays und Katalogeinträgen zu allen Exponaten bzw. Objektgruppen, verfasst von internationalen Spezialist*innen. 

Weitere Informationen über die Ausstellung in Aachen sind ->hier abrufbar. 

[verfasst von Michael Rief, online gestellt von Valentina Vlašić]

Meister Arnt von Kalkar und Zwolle, Himmelfahrtschristus, 1476, Museum Kurhaus Kleve – Dauerleihgabe der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein- Westfalen (heute: Kunststiftung NRW)