Museum: Museum Kurhaus Kleve
Typ: Kunstwerk
Inventar Nr.: 2024-VIII-I (07)
Die Beschäftigung mit den Kupferstichen von Hendrick Goltzius hat für Pia Fries im Jahr 2010 begonnen, als sie sich mit seinem „Fahnenschwinger“ auseinandergesetzt hat. Fasziniert von der Fahne des 1587 entstandenen Werkes, die mehr als zwei Drittel der Fläche des Kupferstiches einnahm, entwickelte sie ihre eigene Serie „fahnenbilder“, bei denen sie den Fahnenträger selbst vollständig auslöschte und sich ganz auf
Goltzius’ virtuos-dynamische Schraffur der flatternden Stoffmasse konzentrierte.
Zwei Jahre später schuf sie die vorliegende Serie mit dem Titel „fahnenpapier“, die sich im kleineren Format ebenfalls mit Goltzius’ außergewöhnlicher Stichtechnik beschäftigte. Auf kühne, wagemutige Weise integrierte Pia Fries Goltzius’ lineare Elemente in ihre kraftvollen, impulsiven Farbkompositionen. Während Goltzius die Möglichkeiten des Kupferstichs vollständig auslotete – indem seine für den manieristischen Kupferstich berühmte „an- und abschwellende Taille“ zunächst spitz anläuft, in der Mitte anschwillt und pointiert ausläuft –, antwortete ihm Pia Fries in diesen Werken mit den Mitteln eines furiosen Farbeinsatzes, den sie gezielt einsetzte. Sie malte die Farbe, schüttete sie, presste, schlug und riss sie, trocknete sie, schabte sie teilweise wieder ab oder zerkratzte sie mit dem Messer.
Während Goltzius, um Lebendigkeit und Spannung zu erzeugen, feine, gebogene Linien mit breiten Kreuzschraffuren kombinierte, entsprach ihm Pia Fries, indem sie mit Siebdruck aufgetragene Ausschnitte seiner Kupferstiche mit vielfältigen Farbüberlagerungen und Aussparungen zu einer komplexen Intensität verdichtete. Beide komponierten ihre Werke mit unterschiedlichen Arten von Linien, beide Herangehensweisen
verfügten über einen dynamisch kraftvollen Gesamteindruck.
Für die Ausstellung „Hendrick Goltzius und Pia Fries: Proteus und Polymorphia“ im Museum Kurhaus Kleve 2017/18 hat Pia Fries die vorliegende Serie der „fahnenpapiere“ einer neuen Deutungsebene unterzogen. Sie hat sie in Relation zum monumentalen Fries „Die Bestrafung der Niobe“ gesetzt, indem sie die einzelnen Werke neu angeordnet und z.T. um die eigene Achse oder um fünfundvierzig Grad im oder gegen den Uhrzeigersinn gedreht hat.
Auch ihr Werk wird – wie das von Goltzius – von rechts nach links gelesen. „fahnenpapier 1“, in satten, harmonischen Farben und mit schwungvollen Pinselstrichen gemalt, veranschaulicht die Bewohner Thebens, die ihre Opfergaben für die Titanin Latona heranbringen. Das eindrucksvolle, von innen pulsierende „fahnenpapier 5“ visualisiert die entschiedene Königin Niobe, die sich dem Volk in den Weg stellt und ihm mit einer resoluten Bewegung der Hand den Weg versperrt. „fahnenpapier 8“ ist das Sinnbild der Latona, die sich dem herrischen Gestus der Niobe nicht unterordnet und für Vergeltungsmaßnahmen zu ihren mordlustigen Kindern eilt.
Die Arbeiten „fahnenpapier 10“, „11“, „12“, „13“ und „14“ sind Fries’ malerisches Äquivalent für das Massaker an Niobes Kindern. … „fahnenpapier 15“ schließlich veranschaulicht die in sich zusammengesackte Niobe am Ende ihres Lebens, um ihre Tochter flehend, die schließlich in ihrem Schoß stirbt, wonach sie, alt und von Gram gebeugt, zu Stein erstarrt.
- Kat. d. Ausst. „Hendrick Goltzius & Pia Fries: Proteus & Polymorphia“, Bestandskatalog der Kupferstiche von Hendrick Goltzius im Museum Kurhaus Kleve, bearb. v. Valentina Vlašić, hrsg. v. Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve e.V. aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve (8. Oktober 2017 – 11. Februar 2018), Kleve 2017, S. 221-232, Abb. S. 222-232, Nr. 43