Kupferstecher*in (nach): Hendrick Goltzius (1558–1617)
Maler*in (Ausführung): Pia Fries (1955)
Künstlertitel: „nemen“, linkes Gemälde aus dem Dipytchon mit dem Titel „nemen / justis“
Datierung: 2015 (Herstellung)
Museum: Museum Kurhaus Kleve
Typ: Kunstwerk
Inventar Nr.: 2018-VIII-I
Das Diptychon „nemen“ und „justis“ (ursprünglich aus der Serie „Windhand Laufbein“) widmet sich der berühmten Kupferstichfolge der „Vier Himmelsstürmer“ von Hendrick Goltzius. Darin sind Goltzius’ Druckgraphiken mithilfe einer druckgraphischen Technik integriert, indem die Kupferstiche per Siebdruck auf Maloberflächen aufgetragen sind.
Beide Künstler thematisieren das Fallen: Goltzius schuf definierte Männerkörper, kraftvoll und ansehnlich, mit ausgearbeiteten Muskelpaketen, die um ihre eigene Achse wirbelnd durch den Himmel stürzten.
Pia Fries potenziert das Thema des Fallens durch malerische Mittel, durch Mittel der Aussparung und Beschränkung. Sie vermeidet für gewöhnlich eine vollständige Übertragung seiner Motive mithilfe des Siebdrucks und konzentriert sich vielmehr auf partielle, vielsagende Bereiche – gestreckte Leiber, gespreizte Beine, wehende Haare – und kreiert an ihm orientierte, jedoch völlig neue Kompositionen. Pia Fries interpretiert und verstärkt Goltzius’ künstlerischen Impuls, Körper in einem Sog wirbelnder Abwärtsbewegung zu zeigen, durch reine Malerei. Sie vollzieht eine Auflösung der bei Goltzius noch vorhandenen Form, in der sich dick aufgetragene Farbschlieren in- und übereinanderschlingt und zu ineinander verkeilten Wulsten und Strudeln verwebt. Sie lässt winzige Ausschnitte von Goltzius’ Fallenden aufblitzen, um sie schließlich in einem Wirbel aus Farben in eine imaginäre Tiefe zu reißen. Überaus nuanciert setzt Pia Fries Leerflächen, um den Blick des Betrachters schließlich auf die mit Farbschichten verflochtenen Körper zu lenken. In ihrem Drang zur Perfektion des Farbauftrags erscheint sie Goltzius nicht unähnlich. Auch er vervollkommnete in den späten 1580er Jahren seine berühmte Stichtechnik aus einem System gravierter Linien, die er in netzartiger Struktur an- und abschwellend übereinander legte, um Plastizität zu erzeugen.
Hendrick Goltzius, „Vier Himmelsstürmer“, 1588
Bei den „Vier Himmelsstürmern“ von Goltzius handelt es sich um spektakuläre und ambitionierte Blätter, die Goltzius nach den Entwürfen seines Haarlemer Kollegen Cornelis Cornelisz. van Haarlem (des sogenannten „holländischen Michelangelo“) gestochen hat. Beide Künstler sollen gemeinsam mit ihrem Freund, dem Künstlerbiographen Karel van Mander, von 1583 bis etwa 1589 in Haarlem „eine Art Akademie“ gebildet haben, mit der sie selbstbewusst versuchten, das Vorurteil, „Niederländer könnten keine Figuren malen“, zu widerlegen. Besonders bei den „Himmelsstürmern“ bemühten sie sich, den Vorsprung italienischer Malerei einzuholen, indem sie sich bei den Verdrehungen und Verrenkungen ihrer männlichen Protagonisten auf berühmte Vorbilder wie Michelangelos „Jüngstes Gericht“ (das den Künstlern in gestochenen Reproduktionen vorlag) oder auf Gemälde Tizians bezogen. Auch Werke heimischer Künstler dienten ihnen vermutlich als Vorlagen, so ist überliefert, dass sich etwa Maarten van Heemskercks „Römisches Skizzenbuch“ in Cornelis van Haarlems Besitz befand.
Die vier fallenden Männer weisen eine bemerkenswerte Körperlichkeit auf. Sie sind nackt, kräftig und muskulös, abwärts stürzend bewegen sie sich heftig, rudern und zappeln mit ihren Extremitäten in der Luft und drehen sich, in anatomisch eindrucksvoller Verkürzung, um die eigene Achse. Goltzius hat ihre Körper im Kupferstich in höchster Präzision umgesetzt und alle in dieser Technik vorhandenen Möglichkeiten ausgeschöpft. Durch verstärkte Hell-Dunkel-Kontraste und extrem taillierte Linien wirken sie präziser und plastischer als Malerei. Von den vier Gemälden des Cornelis Cornelisz. van Haarlem, die Goltzius als Vorlagen dienten, ist heute nur noch das des „Ixion“ erhalten. Es befindet sich in der Sammlung des Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. Die ikonographischen Vorlagen für die Motive lieferten die „Metamorphosen“ des Ovid, wobei dort lediglich Ikarus und Phaëton tatsächlich vom Himmel fielen, Tantalus und Ixion „nur“ ewige Qualen erleiden mussten. Dass van Haarlem und Goltzius sie jedoch alle vier vom Himmel stürzen lassen, ist eine ikonographisch neue, belehrende bildhafte Umsetzung des Sprichworts, dass „auf den Hochmut der Fall folgt“.
Leben und Werk von Pia Fries
In ihrem Œuvre zitiert die international renommierte Malerin Pia Fries (*1955 in Beromünster, Schweiz) Vorbilder aus der Kunst- und Kulturgeschichte, deren vorgefundene Motive oder Muster sie in ihrer furiosen gegenstandslosen Malerei dynamisch verarbeitet. Seit 2010 beschäftigt sie sich mit Fragmenten aus den Kupferstichen des manieristischen Meisters Hendrick Goltzius. Eingangs widmete sie sich seinem ikonischen Fahnenschwinger (1587), der geradezu stolzierenden Figur eines jungen Fahnenträgers an der Front einer Armee, dessen wallende Fahne – ein Erkennungszeichen in einer Schlacht, das nicht vom Feind erobert werden durfte – mehr als zwei Drittel des Bildes einnimmt.
Jüngst liegt ihr Fokus auf den Himmelstürmern (1588), einer Serie von vier Kupferstichen mit den mythologischen Gestalten Tantalus, Ikarus, Phaethon und Ixion, die bei Goltzius in einer Momentaufnahme des Fallens im taumelnden Kampf gegen die Erdanziehung dargestellt sind. Alle damit einhergehenden Assoziationen – Verlust, Schmerz oder Tod, aber auch Freie, Leichtigkeit oder Unabhängigkeit – potenziert sie mit den Mitteln ihrer Malerei.
„Das ist für mich der bildende, schöpferische Prozess, der ‘Polymorphia’ bedeutet: Ich nehme das zum Sinnbild Gewordene, betrachte es aus meiner heutigen Sicht und lasse es ‘neu werden’“, sagt Pia Fries.
Alt und neu gehen in ihren Bildern eine produktive Verbindung ein, sie katapultieren alte Bestände schlagartig in eine neue, moderne Sehweise voll malerischem Furor, hoher Farbkraft und radikalem Ausdruck. Pia Fries widmet sich Aspekten wie der Schraffur der Kupferstiche, dem Rhythmus der Bilder, der Anatomie der Körper oder dem Ausbruch starker Emotionen – wie etwa der Angst der Dargestellten im Moment des Fallens. Sie entwickelt ihre Bilder aus den Farben, aus den Linien und aus den Gegebenheiten. Abbildhaftes rigoros ausklammernd, schafft sie intensive Farbkörper und Linienstränge, die aus dem Bild heraus- oder in das Bild hineinführen, und visualisiert Kräfte, die nach innen oder außen drängen.
Auf ihren Bildkörpern, die je nach Format auch am Boden liegen, arbeitet sie mit Pinsel, Spatel, Messer, Kämmen oder Rechen. Farbe schüttet sie gezielt oder formt sie zu Farbpasten. Eingetrocknete Partien schabt sie wieder ab oder zerkratzt sie mit dem Messer – um die Quintessenz zum Vorschein zu bringen. Dreidimensional wirkende Farbbereiche kombiniert sie mit Freiflächen und ergänzt sie mit Siebdruckelementen und Collagetechniken.
Die war 1997 die erste Künstlerin, die eine Einzelausstellung im Museum Kurhaus Kleve erhielt. Bereits damals zeichneten ihr Œuvre dezidierte Bezüge zur Malereigeschichte aus. Punktgenau zum zwanzigjährigen Jubiläum des Museums kehrt sie zurück, um ihr neuestes malerisches Werk, das sich seit 2010 intensiv mit Hendrick Goltzius beschäftigt, in eine sinnfällige Synthese mit seinen hochkomplexen Bildschöpfungen zu setzen.
Pia Fries lebt und arbeitet in Düsseldorf und in München. Nach einem Studium an der Kunstgewerbeschule Luzern (1977 bis 1980) wechselte sie an die Kunstakademie Düsseldorf. Dort studierte sie von 1980 bis 1986 Malerei und schloss als Meisterschülerin bei Gerhard Richter ab. Es folgte ein Lehrauftrag an der Kunstakademie Düsseldorf und Professuren an der Kunstakademie Karlsruhe sowie an der Universität der Künste Berlin. Seit Februar 2014 hat Pia Fries eine Professur für Malerei und Graphik an der Akademie der Bildenden Künste München inne. Ihre Werke sind in namhaften nationalen und internationalen Sammlungen vertreten. Pia Fries wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Gerhard-Altenbourg-Preis, dem Fred-Thieler-Preis der Berlinischen Galerie und dem Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern.
- Kat. d. Ausst. „Hendrick Goltzius & Pia Fries: Proteus & Polymorphia“, Bestandskatalog der Kupferstiche von Hendrick Goltzius im Museum Kurhaus Kleve, bearb. v. Valentina Vlašić, hrsg. v. Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve e.V. aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve (8. Oktober 2017 – 11. Februar 2018), Kleve 2017, S. 171-180, Abb. S. 175, S. 171
- Kat. d. Ausst. „Schatzhaus und Labor – 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve“, bearb. v. Valentina Vlašić, hrsg. v. Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve e.V. aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve (23. Juli 2022 – 29. Januar 2023), Kleve 2022, S. 47f, 183, Abb. S. 47, Nr. 125
- Hendrick Goltzius und Pia Fries: Proteus und Polymorphia, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré-Sammlung, Kleve, 01.10.2017 - 28.01.2018
- Sammlung Gegenwart, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré-Sammlung, Kleve, 02.04.2023 - 25.06.2023
- Erwerbung von zwei Graphiken von Pia Fries für die Sammlung des Museum Kurhaus Kleve
- Hendrick Goltzius’ „Herkules Farnese“ (um 1592-1617) geht als Leihgabe von März bis April 2022 nach Düsseldorf und vereint sich dort wieder mit Pia Fries
- Neuerwerbung des Diptychons „nemen / justis“ (2015) der Malerin Pia Fries