Ihre Photographien kennen alle, sie selbst steht jedoch stets im Hintergrund: Annegret Gossens, die 2026 sage und schreibe 50 Jahre lang für die Klever Kultur tätig ist. In dieser Zeit hat sie ein umfangreicheres photographisches Œuvre geschaffen als alle ihre männlichen Vorgänger in Kleve (u.a. Ewald Steiger, Willy Maywald oder Fritz Getlinger). Anlässlich des runden Jubiläums im Jahr 2026 ist es höchste Zeit, die bislang weitgehend unbekannte, aber bedeutendste Klever Photo-Chronistin umfänglich vorzustellen und zu würdigen.
Annegret Gossens ist eine alteingesessene Kleverin. 1953 geboren, zählte die Photographie von klein auf zu ihren großen Leidenschaften. Mit zarten 17 Jahren fing sie eine Lehre bei Photo Erkens in Kleve an. Mit 21 Jahren übersiedelte sie nach Köln, wo sie in Ehrenfeld drei Jahre lang Industriemaschinen photographierte. 1976 war sie zurück in Kleve und fing – im Alter von 23 Jahren – als Photographin bei der Stadt Kleve an. Der ehemalige Stadtarchivar und erste Museumsleiter in Kleve, Dr. Friedrich Gorissen, benötigte für das Stadtarchiv fähiges Personal, um alte Stiche und Pläne abzulichten. Annegret Gossens wurde damals im Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angestellt, zwei Mal verlängert und schließlich beim dritten Mal übernommen. Sie wurde von Guido de Werd abgeworben – den Gorissen wenige Jahre zuvor, 1972, im Alter von 23 Jahren als wissenschaftlichen Mitarbeiter nach Kleve geholt hatte und der 1976 von der Stadt Kleve zum Museumsleiter ernannt wurde. Annegret Gossens’ neuer Einsatzort wurde somit das Städtische Museum Haus Koekkoek.
Alle Mitarbeiter*innen des Städtischen Museums waren von Anfang an Allrounder, allen voran Annegret Gossens, die diese Funktion mit Verve und Herzblut erfüllte. Sie war nicht nur für den Bereich der Photographie zuständig, sondern – wenn kostbare Neuerwerbungen anstanden und noch nicht ausreichend durchfinanziert waren – sie war sich nicht zu schade Spenden auf der Straße mit der Büchse zu sammeln. Sie erledigte auch Kunsttransporte für das Museum, mitunter sogar mit ihrem kleinen Citroën 2CV (salopp „Ente“, in den eigentlich nichts reinpasste) … Flexibilität, Spontaneität, Ideenreichtum und ungebrochener Humor zeichneten sie damals aus und gehören auch heute noch fraglos zu ihren vordergründigen Charaktereigenschaften.
Im Bereich der Photographie war Anne Gossens für alle Bereiche zuständig: sowohl für Objekte, Porträts, Installationen als auch Veranstaltungen. Obwohl sowohl Stadtarchiv als auch Museum keine eigene Dunkelkammer besaßen, entwickelte sie alle Aufnahmen in den ersten Jahrzehnten selbst. Dafür wich sie auf das Kreisbildarchiv aus, wo sie jahrelang die dortige Dunkelkammer benutzen durfte, bis ihr schließlich doch noch eine geeignete Räumlichkeit im Haus Koekkoek eingerichtet werden konnte.
Sogar beim Equipment gab es Anlaufschwierigkeiten: Da ihr die Stadt Kleve keine eigene Kamera zur Verfügung stellen konnte, arbeitete sie zunächst mit eigenen Geräten, die entweder Guido de Werd oder sie selbst erworben hatten. Dazu zählte zunächst eine 2-äugige Rolleiflex, später eine Yashika oder eine Nikon. Damit fertigte sie in den Anfangsjahrzehnten vorwiegend Schwarzweißaufnahmen an, erst gegen Ende der 1990er Jahren kamen Farbaufnahmen hinzu. Von allen Aufnahmen fertigte sie bei Bedarf groß- und kleinformatige Abzüge, Negative, Kleinbilddias und Ektachromes, die sie anschließend sogar noch persönlich beschriftete. Erst 2006 vollzog sie den Wechsel von der Analog- zur Digitalphotographie.
Knowhow und Qualitätsstandards, Farben und Ausschnitte spielten in ihrer damaligen Arbeit eine viel größere Rolle als in der heutigen, die naturgemäß von Smartphone-Photographie und KI-generierter Bildbearbeitung geprägt ist. Damals waren Kenntnis, Auge und Erfahrung von größerer Bedeutung als heute. Alle ihre damaligen Aufnahmen fertigte Annegret Gossens ganz selbstverständlich mit Farb- und Graukeil, um sie für den nachträglichen Farbabgleich vorzubereiten. Bei der Produktion hunderter Kataloge war Annegret Gossens die Ansprechperson Nummer 1 für sämtliche Druckabnahmen, die vor Ort in den Druckereien gemacht wurden, manchmal sogar bis tief in die Nacht. Bei der „Haus- und Hofdruckerei des Museums“, B.O.S.S-Druck in Kleve (die ab 2006 in Goch war), war Annegret Gossens ein mit Vornamen angesprochener und stets gern gesehener Gast.
Annegret Gossens photographierte an Kunstwerken alle Jahrhunderte: sowohl mittelalterliche Skulpturen als auch zeitgenössische Kunstwerke, die ab den 1980er Jahren durch den neu gegründeten „Salon der Künstler“ ins Klever Museum kamen. Bei großen Sonderausstellungen nahm sie Installationsaufnahmen im gesamten Museum auf – wie für die große Jan de Beijer-Retrospektive 1980 im Haus Koekkoek oder zuletzt noch 2024 für die Jan Baegert-Schau im Kurhaus. Für Guido de Werds ikonische Publikation über denkmalwürdige Häuser in Kleve, „Das Gesicht einer Stadt“, photographierte Annegret Gossens 1977 halb Kleve. Dafür auch an Privathäusern klingeln und um Einlass bitten zu müssen, damit hatte sie gewohnheitsgemäß keine Probleme. Im Gegenteil, sie liebte den Sozialkontakt und kam mit jeder Kleverin und jedem Klever mühelos ins Gespräch.
Ab den 1980er Jahren photographierte sie im Auftrag von Guido de Werd die Interieurs in den Kirchen in Kleve, später auch in denen von Kranenburg, Goch, Kalkar, Emmerich, Xanten usw. Dafür war sie mitunter tage- und wochenlang in der Region unterwegs, um vor Ort neben Photoapparaten auch Stative, Blitzanlagen, Hintergründe, Leitern und mehr aufzubauen, um die diversen Skulpturen, Altäre, Leuchter und mehr aufwändig ins richtige Licht rücken zu können. Ihre Photographien, die noch heute zeitlose Gültigkeit besitzen, wurden nicht nur vom Klever Museumsleiter de Werd für dessen Publikationen über beispielsweise Meister Arnt, Dries Holthuys oder Henrik Douverman genutzt, sondern auch von sämtlichen nationalen und internationalen Kunsthistoriker*innen und Museen, die Ausstellungen über diese Themen machten oder Werke in Kleve liehen. Zu den letzten Abnehmern der Gossensschen Photos gehörten – um nur wenige, aber herausragende Beispiele zu nennen – u.a. der Louvre in Paris oder das Königliche Palais in Amsterdam. Damit zählt Annegret Gossens bis heute zur erfolgreichsten gänzlich unbekannten Kunstdienstleisterin aus Kleve.
Annegret Gossens war die Anfangsjahre in Vollzeit, nach ihrem Mutterschutz 1978 und 1980 dann halbe Tage für das Museum tätig. Ab 1988 dokumentierte sie regelmäßig den Umbau des Kurhauses, das damals noch Möbellager war, bis hin zum Museum, das schließlich 1997 eröffnete. Beim Umzug packte sie – wie auch alle anderen Mitarbeiter*innen – selbstverständlich persönlich mit an. Dort änderte sich ihr Fokus von der alten Kunst auf vermehrt zeitgenössische Künstler*innen und Ausstellungen – wie z.B. (um nur einige wenige zu nennen) Stephan Balkenhol, Ulrich Erben, Günther Uecker, Mario Merz, Katharina Fritsch, Niele Toroni, Giovanni Anselmo usw. Allesamt Künstler*innen, die heute Weltrang besitzen, „damals“ in Kleve jedoch noch jünger und mitunter erst im beruflichen Aufstieg begriffen waren. Die Klever Museumsphotographin kam mit jedem Künstler und jeder Künstlerin wunderbar zurecht – und fertigte von jeder und jedem heute geradezu ikonisch wirkende Porträts an (wie z.B. ihre Aufnahme des grübelnden Richard Serra am Amphitheater in Kleve, die an Rodins „Denker“ erinnert).
Fast alle Ausstellungen, Künstler*innen, Kunstwerke und Veranstaltungen in der Geschichte des Koekkoek-Hauses und Kurhauses wurden von Annegret Gossens photographiert. Sie lieferte immer Qualität ab, egal, ob sie stundenlang Zeit hatte, eine Objektphotographie eines millionenteuren Kunstwerks zu machen oder unter Zeitdruck Menschen und Leute bei einer Veranstaltung photographisch festhalten musste. Die schiere Anzahl ihrer Aufnahmen geht zahlenmäßig in die hunderttausend, wenn nicht sogar in die Millionen. Sie dokumentierte die komplette Museumsgeschichte von den bescheidenen Anfängen bis in die heutige Gegenwart, wodurch sie das Museum nicht nur als identitätsstiftende Institution in Kleve verankerte, sondern es auch als sogenannten „Dritten Ort“ etablierte, in dem Museumskultur und -geschichte aufeinandertreffen und sich Menschen jedweder Couleur begegneten. Ihre Photos sind immer zielgerichtet auf das Wesentliche konzentriert: auf den Menschen und auf das vom Menschen Geschaffene im Museum. Mit ihren Aufnahmen machte Annegret Gossens das manchmal komplizierte und auf ein elitäres Publikum gerichtete Programm des Museums für jedermann und -frau nahbar und zugänglich. Als die berühmte spanische Künstlerin Christina Iglesias, die 2022 ihre Kunstwerke im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Schatzhaus und Labor“ zeigte, Gossens’ Aufnahmen ihres 2001 verstorbenen Ehemanns Juan Muñoz im Klever Museum aus dem Jahr 1997 sah, brach sie vor Freude und Rührung in Tränen aus.
Annegret Gossens photographierte die großen wie kleinen Veranstaltungen. Es gab keinen Mitarbeitergeburtstag oder keinen Abschied, der nicht von ihr mit der Kamera begleitet wurde, egal, ob dabei Museumsdirektor oder Praktikanten im Zentrum standen – Annegret Gossens war da und dokumentierte jedes kleine und große Event, immer dezent aus dem Hintergrund heraus. Selbstverständlich stellte sie allen ihre Aufnahmen anschließend zur Verfügung, meistens versehen mit einem kurzen handschriftlichen Gruß. Sie photographierte die Weihnachtsfeiern im Haus Koekkoek oder die Festakte im Kurhaus – wie beispielsweise die Verleihung des Johann Moritz Kulturpreises der Stadt Kleve an den Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve e.V. 2007 oder an Guido de Werd 2023. 1978 machte Annegret Gossens Photos vom Besuch des Bundeskanzlers Helmut Schmidt mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Dries van Agt im Haus Koekkoek, 2013 vom Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte im Kurhaus.
Als Dankeschön für ihr Engagement richtete ihr Guido de Werd anlässlich ihres 25-jährigen Dienstjubiläums 2001 eine Studio-Ausstellung im Obergeschoss des Badhotels aus, zeitgleich zur großen Richard Long-Retrospektive in den unteren Stockwerken. 2002 wurde ihre Ausstellung „Lebenswege: Frauen im Handwerk“ in der Regionalstelle „Frau und Beruf“ Kreis Kleve eröffnet. Im Jahr 2000 richtete ihr Bürgermeister Josef Joeken – im Zuge einer Ausstellungsreihe von Klever Künstler*innen, als Bindeglied zwischen Kunst und Bürgernähe – im alten Rathaus der Stadt Kleve die Ausstellung „Kleve und Umgebung 1989–2000“ aus. 1998 und 1999 waren ihre Arbeiten in der Galerie Ursula van Heesch in Kleve zu sehen. 2012 ging Annegret Gossens in Rente und verabschiedete sich aus dem aktiven Dienst der Stadt Kleve, arbeitete danach jedoch fast umgehend auf ehrenamtlicher Ebene weiter. Egal, wer ihre Hilfe benötigt – Museum, Förderverein, Bürgermeister, Stadtmarketing oder Tiergarten – Annegret Gossens ist da und liefert bis zum heutigen Tag Qualitätsarbeit ab.
Ihr analoges und digitales Photoarchiv wurde seit ihrer Verrentung von Kurhaus-Mitarbeiterin Valentina Vlašić neu strukturiert und weitergeführt, trotzdem stand Annegret Gossens jeder und jedem Anfragenden gerne noch persönlich und auskunftsreich zur Verfügung. Als das Museum Kurhaus Kleve 2019 Opfer einer Schadsoftware wurde, die weite Teile des digitalen Bildarchivs unbrauchbar machte, war es Annegret Gossens, die wie selbstverständlich und mit unglaublichem Arbeitseifer fast die komplette Sammlung neu photographierte. Dank ihrer maßgeblichen Unterstützung konnte 2021 ein Meilenstein des Museums online gehen – die Sammlungswebsite, auf der seitdem dank ihrer exzellenten Arbeit rund 10.000 Werke mit exzellenten Abbildungen online veröffentlicht werden konnten – Kunstwerke, auf die seitdem aus der ganzen Welt zugegriffen wird und die überall geteilt werden. Damit ist Annegret Gossens sogar Kleves erfolgreichste unbekannte Kulturbotschafterin schlechthin.
[verfasst und online gestellt von Valentina Vlašić]